Welche Anziehungskraft heute die verschwundenen Orte der Deutschböhmen entfalten war am 20. September im westerzgebirgischen Jelení/Hirschenstand zu verspüren. Dort fand der dritte „Tag der verschwundenen Gemeinden“ statt. Diese Veranstaltungsreihe begann 2023 zeitglich mit dem Wenzelfest in Ryžovna/Seifen, 2024 erinnerte man an den Ort Fojtovice/Voitsdorf in der Nähe des Komáří hůrka/Mückenberges im Osterzgebirge und in diesem Jahr kehrte man ins Westerzgebirge zurück. Veranstalter ist die Destinační agentura Krušnohoří, z.s., was man als tschechisches Gegenstück des Tourismusverbandes Erzgebirge betrachten kann. Die Einladungen zu dieser Veranstaltung in tschechischer und deutscher Sprache kursierten schon seit Wochen in den sozialen Medien und auch die Presse in unseren beiden Ländern informierte darüber. Obwohl ein großes Festzelt aufgebaut war, spielt das Wetter bei diesen Veranstaltungen immer eine Rolle. Es war vermutlich von den Temperaturen her der letzte Sommertag des Jahres und so strömten viele Besucher in diesen entlegenen Ort, der, wie von der Bürgermeisterin Eva Machková aus Nové Hamry/Neuhammer zu erfahren war, heute noch 4 ständige Einwohner hat. Der einstmals selbständige Ort wurde mit seinen 4 alten und mittlerweile 3 neuen Häusern in diese Gemeinde eingegliedert.


Das ansprechende Programm mit Musikdarbietungen, einer Wanderung durch das Gelände des einstigen Dorfes, einer Filmpremiere und dem Entzünden von Lichtern an Standorten einstiger Häuser lockte weit über 500 Besucher in die Kammregion des Westerzgebirges. Auch einstige Bewohner und deren Nachkommen mischten sich unter die Gäste, die etwas zur Hälfte aus Deutschland und Tschechien kamen. Diese nahmen zum Teil weite Anfahrten von über 4 Stunden dafür in Kauf, um diesem Event beizuwohnen. Man kann durchaus annehmen, dass am 20. September 2025 zeitgleich die meisten Menschen seit rund 80 Jahren auf diesem herrlichen Fleckchen Erde verweilten und eine interessante und gesellige Zeit verbrachten. Freundschaften über Ländergrenzen hinweg zu pflegen und Kontakte zu knüpfen war schon seit jeher das Anliegen unserer Altvorderen in der Grenzregion des Erzgebirges.


Nach dem vormittäglichen Auftritt der tschechischen Sängerin Karolinna folgte der erste Höhepunkt des Tages. Der Architekt Josef Zumr ging mit den interessierten Gästen an vier Stellen des Ortes und erklärte dort aus seiner Sicht das entbehrungsreiche Leben der früheren Bewohner und anhand historischer Aufnahmen des Fotografen Rupert Fuchs konnten die Teilnehmer, es mögen anfänglich wohl etwa 250 gewesen sein, durch den Vergleich zur heutigen Natur einen Eindruck vom Ort gewinnen. Dabei ging er auf viele Aspekte, wie Verkehrsanbindung und Erwerbstätigkeit ein. Damit alle den Ausführungen und der Übersetzung folgen konnten, wurden drei Funkgeräte genutzt, wobei 2 als Lautsprecher in den entfernteren Bereichen dienten. Die Tschechen sind halt immer noch Meiser der Improvisation. Die dafür vorgesehene Zeit von einer Stunde wurde reichlich überzogen, was aber eher bereichernd wirkte, denn die gestellten Fragen der Teilnehmer erweiterten das Spektrum spürbar. Hungrig kehrten die Teilnehmer des Rundganges zum Festzelt zurück. Trotz der vielen Gäste war die Versorgung mit leckeren Speisen und Getränken ohne lange Warteschlangen bis zum Ende der Veranstaltung gewährleistet. Dies zeugt von einer guten Organisation der unterschiedlichen Anbieter. Auf dem Gelände der einstigen Kirche wurde die „Gedenkbank“ von Sabine Borovanská, Mitarbeiterin der Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, enthüllt. Es ist Tradition, dass in jedem Ort in dem der „Tag der verschwundenen Gemeinden“ stattfindet, etwas Bleibendes hinterlassen wird. Auf dem Gelände der einstigen Kirche bot der Stand des Veranstalters interessante Literatur und einige Souvenirs an. An einem dortigen Zaun waren historische Fotos mit einer zweisprachigen Erklärung angebracht und Kinder verkauften kleine Schmuckkettchen und andere selbst gebastelte Gegenstände. Auch war Anfänglich die deutschsprachige Broschüre über den Ort Hirschenstand erhältlich. Leider wurde die Nachfrage unterschätzt, sodass die späteren Interessenten dies nicht direkt mit nach Hause nehmen konnten, sondern sich mit dem Postversand begnügen müssen.


Der Nachmittag gehörte der Musik. Die tschechische Band Tina Gabner & Friends eröffnete den musikalischen Reigen und die Sosaer Köhlermusikanten schlossen sich an. Am späten Nachmittag folgte dann ein weiterer Höhepunkt. Štěpán Javůrek befragte František Severa, auch bekannt als Franzl aus Trinksaifen, zu seinen Kindheitserinnerungen zwischen Augsburg, Rudné/Trinksaifen und Jelení/Hirschenstand, wo sein Großvater drei Jahre lang die Konsumverkaufsstelle nach der Vertreibung überhatte und welche bürokratischen Kämpfe mit der tschechischen Obrigkeit ausgefochten werden mussten, bis die deutschböhmisch-tschechische Familie gemeinsam in Rudné/Trinksaifen leben durfte. Mit einigen erzgebirgischen Liedern lockerte Franzl die einstündige Gesprächsrunde wohltuend auf. Anschließend wurde es mit der Band FEI aus Sachsen nochmals musikalisch. In erzgebirgischer Mundart werden von diesen drei Musikern, wobei einer aus Böhmen stammt, die Themen der heutigen Zeit auf zum Teil humorvolle und zum Nachdenken anregende Art dargeboten.
Als die Sonne hinterm Wald verschwunden war präsentierte Petr Mikšíček seinen neuen Dokumentarfilm über die Geschichte des Dorfes Hirschenstand als Premiere. Neben Gesprächen mit Zeitzeugen und Udo Blaha, einem Sammler historischer Ansichtskarten, wurden dabei Personen aus diesen alten Aufnahmen mittels Künstlicher Intelligenz zum Leben erweckt und daraus kurze Filmsequenzen erstellt. Es ist faszinierend, wie man die Visualisierung heute zur Veranschaulichung historischer Begebenheiten nutzen kann. Mit langem Applaus von den Gästen, des bis auf den letzten Platz gefüllten Zeltes, wurde diese filmische Arbeit gewürdigt.


Danach folgte der für viele Besucher emotionale Höhepunkt des Tages. Auf der Südseite des einstigen Dorfes wurden an den Stellen der einstigen Häuser Leuchtstäbe entzündet. So bekam man eine noch bessere Vorstellung vom ursprünglichen Hirschenstand. Wer gleich nach dem Film das Zelt verließ, konnte am nächtlichen Himmel den Überflug der ISS über Hirschenstand beobachten. Welch ein toller Zufall!

Štěpán Javůrek, der auch Buchautor ist, verlas vor dem beleuchteten Denkmal seine eigenen Gedanken zu Hirschenstand und seinen früheren Bewohnern. Ein großes Lob gebührt dabei der Dolmetscherin aus Ústí nad Labem/Aussig an der Elbe für ihre souveräne Arbeit, wodurch jegliche Sprachbarriere überwunden wurde und alle gleichsam den Ausführungen folgen konnten. Das war aber noch nicht das Ende dieser Veranstaltung. Auf dem Weg aus Richtung Chaloupky/Neuhaus, wo heute kein Haus mehr zu finden ist, wandelten zwei Lichtpunkte. Je näher sie kamen, desto deutlicher wurde es, dass es zwei von innen beleuchtete Hirsche waren. Gleichzeitig tummelte sich eine auf die gleiche Art beleuchtete Biene und ein Storch auf dem Gelände der einstigen Kirche und den angrenzenden Wiesen. Schließlich versammelten sich zum Abschluss alle vier künstlichen Tiere auf dem Kirchplatz, bevor sie dann noch einmal auf dem gesamten Festgelände die Besucher verabschiedeten. Lob und Dank gilt den Organisatoren, Helfern und Unterstützern für diesen wundervollen, unvergesslichen Tag mit einem fast zwölfstündigen Programm in Gottes herrlicher Natur auf den Höhen des westlichen böhmischen Erzgebirges. Bleiben wir gespannt, welcher Ort im kommenden Jahr in den Fokus gerückt wird …


Dieser Artikel wurde zuerst im Grenzgänger Ausgabe 139 (Oct/Nov 2025) veröffentlicht.
Wir danken dem Autor Ulrich Möckel herzlich, dass wir den Text hier einstellen dürfen.